Johann Sebastian Bach

1685–1750

Johann Sebastian Bach, 1746, Portrait von Elias Gottlob Haussmann (1695–1774)

Johann Sebastian Bach

1685–1750

Die insgesamt einflussreichste und nachhaltigste Errungenschaft Martin Luthers besteht in einem für den Geist der Reformation an Bedeutung kaum zu überschätzenden und untrennbaren Bücherpaar: die »Heilige Schrift in deutscher Übersetzung« und das »Gesangbuch«. Diese beiden reformatorischen Lebensbegleiter haben in der Folgezeit die christliche Kultur insgesamt und über alle Konfessionsgrenzen hinweg, insbesondere jedoch die Glaubenspraxis der christlichen Gemeinde wie die Institution des Gottesdienstes, ein für allemal grundlegend verändert. Das Hören, Lesen und Lernen der Heiligen Schrift in der Muttersprache, wie das Singen von Kirchenliedern im Gottesdienst und andernorts zum Lobe Gottes, zum Lernen und Bewahren der Glaubensinhalte wie auch zur geistlichen Erbauung, machte im frühen 16. Jahrhundert dem Menschen seinen Stellenwert vor Gott neu bewusst und besiegelte damit das Ende des Mittelalters. Bibel und Gesangbuch boten den Komponisten der Reformationszeit den nahezu ausschließlichen, überaus reichhaltigen und vielfältigen Stoff für ihre kirchenmusikalischen Werke, die sich darin wesentlich von der vorreformatorischen ­Tradition unterschieden. Sogenannte »Saft- und Kraftsprüche« des Alten und Neuen Testaments wie »Fürwahr er trug unsere Krankheit …« oder »Also hat Gott die Welt geliebt, dass er uns seinen eingeborenen Sohn gab« und Evangelienmotetten durch das ganze Kirchenjahr hindurch bestritten über sehr lange Zeit den Chorgesang zur Zierde des Gottesdienstes und Vertiefung der biblischen Botschaft. Auch Gesangbuchdichtung mit immer wieder neu geschaffenen Choralmelodien behielt über viele Generationen hin ihre dominierende Stellung in der kirchenmusikalischen Kunst, die sie dann freilich im Zeitalter Johann Sebastian Bachs weitgehend einbüßen musste. Die geistlichen Kantaten und Oratorien des 18. Jahrhunderts zogen den Bibeltexten sprachlich neu gefasste Paraphrasen von Worten der Heiligen Schrift vor. Das Kirchenliedrepertoire blieb zunehmend dem Gemeindegesang überlassen und verlor seinen Stellenwert in der Kunst.

Johann Sebastian Bach – am 31. März 1685 in Eisenach geboren und am 28. Juli 1750 in Leipzig gestorben – blieb von der Tendenz seiner Zeit keineswegs unberührt, wenn wir an sein Oster­oratorium denken, das auf Bibeltexte und Choral­strophen vollständig verzichtet. Dennoch blieb er mehr als die meisten seiner Zeitgenossen der lutherischen Tradition des 16. und des 17. Jahrhunderts bewusst verpflichtet, ja gab ihr gerade im Blick auf ihre tragenden Säulen Bibel und Gesangbuch eine neue Dimension. Was seinen Umgang mit Bibel und Gesangbuch besonders auszeichnet, ist nicht allein das ungewöhnlich hohe künstlerisch-musikalische Niveau seiner einschlägigen Vertonungen, sondern auch die geradezu wissenschaftliche Erarbeitung der Texte und ihre theologisch-inhaltliche Durchdringung mit dem deutlichen Ziel, ­Martin Luthers Ansicht vom Verkündigungscharakter der Musik im Sinne von »Deus praedicavit etiam per musicam« (WA, Tischreden Nr. 1258) kompositorisch umzusetzen.

Bachs »Komponirstube« war ­unter anderem ein Ort profunder theologischer Reflexion. Der Besitz einer wissenschaftlich-theologischen Bibliothek war für einen Komponisten keine Selbstverständlichkeit – schon gar nicht, dass sie (wie Bachs Nachlassverzeichnis belegt) die beiden großen Gesamtausgaben der Schriften Martin Luthers enthielt: die achtbändige alte »Jenaer Ausgabe« von 1555 bis 1558 und die jüngere zehnbändige »Altenburger Ausgabe« von 1661 bis 1664; dazu noch Einzelbände mit den Tischreden, dem Psalmenkommentar und der Hauspostille. Exegetische Werke und Bibelerklärungen des 17. Jahrhunderts spielten in Bachs Handbibliothek eine wichtige Rolle, darunter insbesondere die dreibändige annotierte Bibelausgabe von Abraham Calov. Bachs Bibliothek enthielt auch das seinerzeit umfangreichste hymnologische Werk, das von Paul Wagner besorgte »Gesangbuch« in acht Bänden. Damit stand Bach ein autoritatives Nachschlagewerk mit knapp 5.000 Kirchenliedtexten ohne Melodien zur Verfügung. Während das Original aus Bachs Besitz verschollen ist, kann sein Exemplar des von Michael Weisse herausgegebenen »Gesangbuches der böhmischen Brüder« von 1538 nachgewiesen werden. Daran, dass der Komponist auf ein breit gefächertes Repertoire von Kirchenliedern zurückgreifen konnte, kann also kein Zweifel bestehen. Hinzu tritt die Beobachtung, dass er sich bei der Auswahl geeigneter Liedstrophen und passender Melodien weitgehend auf den klassischen Vorrat von der Reformationszeit bis um die Mitte des 17. Jahrhunderts mit den wesentlichen Eckpunkten Martin Luther und Paul Gerhardt beschränkte.

Höchst selten machte Bach Gebrauch von jüngeren und neuesten Liedern und Melodien. Bachs intensive und lebendige Auseinandersetzung mit Bibel und Gesangbuch als den entscheidenden Quellen seiner kirchenmusikalischen Werke erweist sich am deutlichsten dort, wo es ihm als Komponist um inhaltsbezogenen musikalischen Ausdruck geht. Das gilt insbesondere für sein umfangreiches Kantatenwerk. Ein konkretes Beispiel aus dem ersten Leipziger Amtsjahr des Thomaskantors Bach mag stellvertretend für zahllose andere erläutern, welcher Stellenwert dem Zusammenhang von Bibel und Gesangbuch in der musikalischen Interpretation des Komponisten zukommt.

Dem Eingangschor der Kantate »Es ist nichts Gesundes an meinem Leibe« (BWV 25) zum 14. Sonntag nach Trinitatis liegt ein alttestamentlicher Psalmvers zugrunde: »Es ist nichts Gesundes an meinem Leibe vor deinem Dräuen [wegen deines Drohens] / und ist kein Friede in meinen Gebeinen vor [wegen] meiner Sünde« (Psalm 38, 4). Diesen Vers vertonte Bach als vierstimmigen Chorsatz mit Orchester, der im Rahmen des Gottesdienstes unmittelbar nach der Evangelienlesung des Sonntages, (Lukas 17,  11–19, »Jesus begegnet zehn Aussätzigen«) erklang. Dem vokalen Chor tritt später ein ebenfalls vierstimmer ­Bläserchor gegenüber, der zeilenweise eine ganze Choral­strophe ohne Text bietet, und zwar mit der Melodie »Herzlich tut mich verlangen«, die sich vor ­allem mit Paul Gerhardts Lied »O Haupt voll Blut und Wunden« verbindet. Welchen Sinn aber hätte ein Passionslied im Zusammenhang mit Psalm 38 oder dem Lukasevangelium? In Kapitel 17, 13 heißt es, die Aussätzigen »erhoben ihre Stimme und sprachen: Jesus, lieber Meister, erbarme dich unser!« Dieser Vers erklingt nicht im Chorsatz der Kantate, dennoch vertont Bach ihn in Gestalt des Chorals und seiner inhaltlichen Bezugnahme. Denn der Gesangbuchkenner Bach erinnert hier an das Kirchenlied »Ach Herr, mich armen Sünder« von Cyriacus Schneegaß (1597), das schon früher als die gerhardtsche Dichtung auf dieselbe Melodie gesungen wurde. Der Komponist meint insbesondere die zweite Strophe, die sich unmittelbar mit dem Psalmtext verbindet und zugleich die Betonung des Individuellen (ich, mein) verstärkt, auf die auch der Psalmist zielt:

»Heil du mich, lieber Herre, Denn ich bin krank und schwach, Mein Herz betrübet sehre, Leidet gross Ungemach.

Mein G’beine sind erschrocken, Mir ist sehr angst und bang, Mein Seel ist auch erschrocken, Ach du Herr, wie so lang!«

Diesen Ruf der Aussätzigen um Erbarmen übernimmt Bach im Bläserchoral, der somit die flehenden Stimmen der Aussätzigen vertritt. In diesem explizit und implizit geführten Dialog dreier Textschichten aus dem Alten und Neuen Testament sowie dem Gesangbuch schafft Bach ein theologisch interpretierendes Ausdrucksgemälde, wie es mit Worten kaum adäquat beschrieben werden kann. Denn die Musik vermag ganz anders als das gesprochene Wort »unter die Haut« zu gehen. Bachs kirchenmusikalisches Werk belegt seine umfassende Bibelkenntnis, sein ausgeprägtes Interesse an exegetischer Literatur sowie seine detaillierte Beherrschung des Gesangbuchs und bezeugen damit seine besondere Verbundenheit zur lutherischen Tradition und dem Geist der Reformation. Insbesondere das Kantatenwerk zeigt allenthalben, wie der Komponist Bach in einem gleichsam vormusikalischen Akt als Leser beginnt, der den zu vertonenden Text vom Inhalt und Kontext her verstehen will und dann überlegt, wie das Verstandene am besten in lebendige musikalische Sprache übersetzbar ist.

In Martin Luthers Tischreden findet sich dazu die charakteristische Bemerkung: »Die Noten machen den Text lebendig.« Eine Aussage, die zugleich als eine zentrale Voraussetzung für Johann Sebastian Bachs musikalische Kunst gelten kann.

Johann Sebastian Bach:
Der Geist hilft unsrer Schwachheit auf (BWV 226) – Athesinus Consort Berlin, Klaus-Martin Bresgott (CD »Boten«, 2011)

Johann Sebastian Bach (1685–1750), 1746, Portrait von Elias Gottlob Haussmann (1695–1774)

Johann Sebastian Bach an der Orgel

Die Leipziger Thomaskirche 1749. Kupferstich 13 × 13 cm, alt koloriert

Die letzte Seite, unvollendet – das Manuskript zu »Fuga a 3 Soggetti«, aus "Die Kunst der Fuge« BWV 1080. Die Notiz seines Sohnes Carl Philipp Emanuel Bachs sagt: »NB: ueber dieser Fuge