Heinrich Schütz

1585–1672

Heinrich Schütz

1585–1672

Heinrich Schütz – am 18. Oktober 1585 in Köstritz geboren – galt im 20. Jahrhundert vielen als Inbegriff lutherischer Kirchenmusik der Zeit vor Bach. Werke aus der Geistlichen Chormusik von 1648 waren Standardrepertoire der Kirchenchöre: »Also hat Gott die Welt geliebt«, »Verleih uns Frieden« oder »Die mit Tränen sehen«. »Aller Augen warten auf dich« aus den »Zwölf geistlichen Gesängen« war auf Chorausflügen Tischgebet. Noch ehe um 1980 der Boom der Alten Musik ansetzte, hatte Schütz den Weg zu ihr geebnet, und zwar in echter musikalischer Breitenarbeit – so breit, wie die Kirchenchöre die Gesellschaft spiegelten. Heute aber ist Heinrich Schütz’ Musik in Kirchenchören nicht mehr selbstverständlich: War sie wirklich »Chormusik«? Wie vieles von dem, was alte Musikvirtuosen aus seinen Werken herausholen können, lässt sich in eine Chorpraxis übertragen? So hat sich auch Schütz’ Einschätzung gewandelt.

Man kennt ihn als »Alten Meister«, doch zunehmend tritt in den Vordergrund, wie sehr er zu seinen Lebzeiten ein Vorreiter der Moderne war. Noch um 1580 war die Kursächsische Schulordnung von Misstrauen gegenüber zeitgenössischer Musik geprägt; 1616 setzte der sächsische Kurfürst dann neben jene »bewährte« Musik als neues Vorbild die »Psalmen Davids« des jungen Schütz, der in Venedig beim international berühmten Giovanni Gabrieli ausgebildet worden war. Damit wurde Schütz auch zu einem politischen Komponisten. Schon das Reformationsjubiläum 1617 erhielt mit seiner Musik eine besondere Note. Und wo immer der sächsische Kurfürst mit Versuchen auftrat, das zerrüttete Deutschland zu befrieden, wurde dies stets von Schütz’ Musik begleitet. Sei es beim Kurfürstentag 1627 in Mühlhausen oder beim Treffen der evangelischen Fürsten in Leipzig 1631. Als Sachsen dann in den Kriegsstrudel geriet, übernahm Schütz Dienste in Kopenhagen, um jahrelang am anderen Ende der dänisch-sächsischen Achse lutherischer Kultur zu wirken. Dabei setzte Schütz wiederum Zeichen des Modernen.

1628 / 29 ein zweites Mal in Italien fortgebildet, wurde er in Mitteleuropa ein Wegbereiter des solistisch-virtuosen »Kleinen geistlichen Konzerts«, das – bald mit, bald ohne Instrumente – neben der Orgel zu singen ist. Werke, die wegen ihrer technischen Ansprüche Kirchenchören nicht zugänglich werden, aber eben gleichfalls zentrales lutherisches Kulturerbe sind, wurden so nach 1650 zu einem musikalischen Leitbild des Luthertums. Schütz war zugleich konfessioneller Kosmopolit. Als Kapellknabe in Kassel lernte er calvinistische Musikkultur kennen; in Venedig wünschte sich der Katholik Gabrieli Schütz als seinen Nachfolger als Organist an San Marco. Der lutherische Kurfürst in Sachsen riskierte eine diplomatische Krise, als er Schütz aus Kassel nach Dresden abwarb. Dort vertonte Schütz dann in den »Cantiones sacrae« auch genau die Texte, die im Andachtsbuch des katholischen Kaisers standen. Um 1650 war die wichtigste italienische Kontaktperson dieser lutherischen Identifikationsfigur der katholische ­Hofkapellmeister in Warschau. Das alles macht auch den internationalen »neuen Schütz« aus, der, nicht zuletzt durch die Wende von 1989 beflügelt, im Boom der alten Musik einen zentra­len Platz erhalten hat. ­Immer neu lässt sich erleben, dass Schütz – gestorben am 16. November 1672 in Dresden – ein ­Meister des ­musikalischen Ausdrucks war. Dies gilt nicht nur dafür, wie er christliche Botschaft vermittelt. Gottes­dienstliche Hörer ebenso wie Interpreten erleben die Eleganz und gehaltliche Tiefe seiner musikalischen Linienführung, die es für Sänger in jeder Stimmlage zu einer dankbaren Aufgabe macht, seine Musik aufzuführen.

Heinrich Schütz:
Die mit Tränen säen, SWV 378 – Athesinus Consort Berlin, Leitung Klaus-Martin Bresgott (CD »Boten«, 2011)

Heinrich Schütz (1585–1672)