Felix Mendelssohn Bartholdy
1809– 1847
Felix Mendelssohn Bartholdy
1809– 1847
Noch vor wenigen Jahrzehnten hätte man die Erinnerung an Mendelssohn Bartholdy bestenfalls einer Randnotiz für würdig gehalten. Das Ideal einer klanglich herberen und dem »objektiven« Geist der Liturgie verpflichteten Kirchenmusik, wie es vor allem in Deutschland seit der »kirchenmusikalischen Erneuerung« der 1920er-Jahre bis über die Mitte des vorigen Jahrhunderts hinaus favorisiert wurde, war zugleich mit einer historischen Rückkoppelung an das 16. bis 18. Jahrhundert und einer Abwertung der Kirchenmusik des 19. Jahrhunderts verbunden. Im Falle von Mendelssohn kamen antisemitische Vorurteile hinzu, die schon bei Richard Wagner begannen und unter dem nationalsozialistischen Regime bekanntlich zum völligen Aufführungsverbot seiner Musik führten. Immerhin hatten derartige Vorurteile am Ende des 19. Jahrhunderts dazu geführt, dass ein geplantes Mendelssohnfenster in der Leipziger Thomaskirche verhindert wurde – ein Makel, der erst vor wenigen Jahren durch die Vervollständigung der »Ehrenfenster« in St. Thomas getilgt werden konnte! Der Wechsel von Zustimmung und Reserviertheit gegenüber einem Komponisten im Laufe der Zeiten mag vielerlei und nicht immer offen zu Tage liegende Gründe haben. Das derzeitige Interesse an Mendelssohn ist aber auch der Musikwissenschaft zu verdanken, die ihm seit circa 1970 einen schärferen analytischen Blick gewidmet hat und dabei nicht zuletzt mit dem Klischee aufräumen konnte, Mendelssohns Musik sei von klassizistischer Glätte und verdächtiger Mühelosigkeit gekennzeichnet und noch darüber hinaus viel zu sehr an historischen Modellen orientiert. Die genauere Untersuchung des Quellenmaterials zeigte indes, dass Mendelssohns Musik keineswegs mühelos entstanden ist, sondern das Resultat kompliziert abwägender, im Ergebnis kaum noch erkennbarer Arbeit darstellt. So wurde der Blick auf die Mehrschichtigkeit dieser Musik frei.
Felix Mendelssohn wurde am 3. Februar 1809 in Hamburg geboren, starb am 4. November 1847 in Leipzig und wuchs in Berlin als Sohn eines Bankiers und Enkel des Philosophen Moses Mendelssohn auf. Damit war er im großbürgerlichen, aufgeklärt assimilierten jüdischen Milieu verwurzelt, das ihm reichste geistige Anregungen inmitten der intellektuellen und künstlerischen Elite Berlins bot. Zum Freundeskreis des Elternhauses gehörten unter anderem Humboldt, Schleiermacher, Heine und Schadow, die auch die halböffentlichen Hauskonzerte besuchten, in denen die ersten Kompositionen des Knaben aufgeführt wurden. 1816 ließ der Vater ihn und seine Geschwister protestantisch-reformiert taufen. Zeitlebens hielt sich Mendelssohn zur reformierten Gemeinde, der auch seine spätere Frau, die aus Frankfurt am Main stammende Cécile Jeanrenaud, angehörte. Lutheraner war Mendelssohn also nicht, wohl aber von einem bibelfrommen, mild-unierten Geist geprägt, in dem er auch seine jüdischen Wurzeln nie verleugnete. Ohne Übertreibung darf man ihn als musikalisches Wunderkind bezeichnen. Bis 1824 lagen bereits circa 150 Werke vor, darunter auch ein Magnificat (1822), ein Kyrie (1823) und ein Salve Regina (1824). Mit dem Oktett Op. 20 und der Ouvertüre zum Sommernachtstraum Op. 21 legte der 16- beziehungsweise 17-jährige erste Meisterwerke vor.
Am 11. März 1829 fand die legendäre Aufführung der Matthäuspassion Bachs mit der Berliner Singakademie statt, mit der der gerade zwanzigjährige Dirigent – trotz anfänglicher Skepsis seines Lehrers und Mentors Zelter – ein entscheidendes Signal zur Wiederentdeckung des Bachschen Vokalwerkes und zugleich einen deutlichen Beweis seines musikhistorischen Scharfsinns gab. Zu den Zuhörern gehörten Schleiermacher und Hegel, bei dem Mendelssohn übrigens 1827/28 auch Vorlesungen hörte. Hinsichtlich der Startbedingungen und Lebensausstattung fand sich Mendelssohn also in Verhältnissen vor, wie sie wohl keinem anderen Komponisten der Zeit zuteil geworden sind. Dies fiel aber umso mehr als Leistungsanspruch auf ihn zurück. Allein des Broterwerbs wegen hätte er wohl kaum einer geregelten Berufstätigkeit bedurft. Nach einigen Reisejahren, die mit einer längeren Periode kompositorischer Selbstzweifel einhergingen, wurde er 1833 Generalmusikdirektor in Düsseldorf und damit auch für die Kirchenmusik der katholisch geprägten Stadt zuständig. Schon zuvor hatte er 1829 für das 1830 anstehende 300-jährige Jubiläum der Confessio Augustana die Arbeit an einer Symphonie begonnen, in deren Ecksätzen er Luthers Ein feste Burg einfügte. Das Werk, die Reformationssymphonie, gelangte verspätet 1832 zur Uraufführung, wurde aber hernach vom Komponisten verworfen und erst posthum veröffentlicht. Als Opus 23 erschien 1830 eine Kirchenmusik genannte Sammlung, in der sich katholisches (Ave Maria) und evangelisches Repertoire vereint findet. Die Düsseldorfer Jahre gaben Mendelssohn allmählich wieder stärkeres Selbstvertrauen. Im Zentrum seiner Arbeit stand das Oratorium Paulus Op. 36, das zwar erst 1836 in Leipzig vollendet, aber in Düsseldorf uraufgeführt wurde. 1835 übernahm Mendelssohn das Amt des Leipziger Gewandhauskapellmeisters. Mit seinen Programmen, mit Uraufführungen und einem historische Musik einschließenden, breit ausgelegten Repertoire, renommierten internationalen Solisten und einem neuartigen Verständnis der Dirigentenrolle erfüllte das Orchester bald nicht mehr nur Ansprüche, sondern setzte neue Maßstäbe. 1843 wurde durch Mendelssohns Bemühungen das erste deutsche Konservatorium der Musik in Leipzig gegründet. Zu seinen vielfältigen Pflichten als Komponist, Dirigent, Pianist, Organist und Musikorganisator kam nun noch diejenige des Pädagogen hinzu. Es ist unmöglich, die Vielzahl kirchenmusikalischer Werke zu nennen – die stattliche Zahl von Motetten, Psalmkompositionen und Choralkantaten –, die im Laufe der Jahre entstanden und die teilweise auch für Zwecke der anglikanischen Liturgie bestimmt waren, da Mendelssohn gerade nach England Kontakte pflegte und Reisen dorthin unternahm.
Noch viel weniger können die Oratorien angemessen gewürdigt werden, denen nach dem Paulus der 1846 in Birmingham uraufgeführte, umjubelte Elias folgte (ein drittes Oratorium Christus blieb unvollendet). Mit diesen Werken reflektierte der Komponist Modelle der alten Kirchenmusik, in den Chorwerken a cappella beispielsweise Palestrina, in den Choralkantaten und Oratorien Bach, aber auch Händel. Zugleich verstand er es, aus den Vorbildern den Funken der eigenen Zeit zu schlagen. Das ließe sich an der Behandlung des Orchesters und der thematisch-motivischen Arbeit ebenso aufzeigen wie an der Harmonik. Beachtenswert ist auch die Textzusammenstellung für die Oratorien, die der bibelkundige Komponist nach mancher Beratung mit Freunden letztlich selbst in die Hand nahm. Schon im Lobgesang Op. 52 (1840) gelang ihm die Versöhnung zwischen symphonischen und vokalen Traditionen, indem das vokale Element – anders als in Beethovens IX. Symphonie – nicht nur der Finalsteigerung dient, sondern zum integralen Teil eines komplexen symphonischen Ablaufes wird. In den 1840er-Jahren setzte sich Mendelssohn nochmals mit den Problemen funktionaler Kirchenmusik auseinander. Als Friedrich Wilhelm IV. ihn nach Berlin holen wollte, scheute Mendelssohn zwar den völligen amtlichen und privaten Wechsel dorthin, ließ sich aber doch 1842 nach bemerkenswert selbstbewussten Verhandlungen mit dem König die »Oberaufsicht über die Kirchenmusik« am Dom und für den neu gegründeten Domchor übertragen. Bereits 1835 hatte sich der Komponist skeptisch über die Möglichkeiten »wirklicher Kirchenmusik« als »integrierender Theil« des Gottesdienstes geäußert und dabei direkt auf die spärlichen Möglichkeiten der preußischen Agende von 1829 verwiesen. Über derlei Grenzen setzte sich Mendelssohn in den für Berlin entstehenden Werken hinweg, was wohl – von Zustimmung aus der Gemeinde abgesehen – nur dank des königlichen Wohlwollens akzeptiert wurde. Nicht unerwähnt bleiben darf schließlich seine Bedeutung für die Orgelmusik, die sich in den Präludien und Fugen Op. 37 (gedruckt 1837/38) und den Sonaten Op. 65 (1845) wie in den erst neuerdings vollständig zugänglichen, seinerzeit ungedruckt gebliebenen Werken zeigt. Auch hier verband er historisch-kontrapunktische Reflexionen mit einem konzertant-virtuosen, die zeitübliche Dürre bescheidener Funktionalität überbietenden Anspruch, ohne den geistig-kirchenmusikalischen Bezug zu leugnen, wie an der Einbeziehung von Chorälen deutlich wird. Damit hatte er ein ganz neues Gattungsmodell geschaffen.
Kirchenmusik, womit nicht nur funktional-gottesdienstliche Musik gemeint sein kann, durchzieht, im Unterschied zu den meisten seiner Zeitgenossen, Mendelssohns gesamtes Œuvre. Indem er stilistisch nicht zwischen »weltlicher« und »geistlicher« Musik unterschied und dennoch die historische Tiefendimension der Kirchenmusik respektierte, gab er dieser einen Rang zurück, der ihr wegen mangelnder Autonomie und weitgehender Textbindung (als Gegensatz zur reinen Instrumentalmusik) von den vorherrschenden Normen damaliger Ästhetik eher abgestritten wurde. Bedeutsam wurde dieser Werkbestand durch jene Anteile, mit denen er sich liturgischer Verwendung anbot, ohne sich den Forderungen liturgischer Dienstbarkeit unterzuordnen. Dürfte sich schon in diesem Querstand von Liturgie und artifiziellem »Aufwand« ein essenzielles und zu bewahrendes Kennzeichen evangelischer Kirchenmusik ausdrücken, so ist die Aktualität und Präsenz von Mendelssohns Musik damit doch nicht erklärt. Dass uns für diese die Ohren wieder geöffnet sind, liegt auch daran, dass wir theologisch und spirituell den Wert einer subjektiven, die emotionale Seite der Religion zum Klingen bringenden Musik als notwendige Ausdrucksform des Glaubens wieder schätzen gelernt haben. Um sich dieses zu vergegenwärtigen, bedarf es nicht der großen Oratorien. Es genügen kleine »Perlen«, wie die Motette Herr, nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren, die Mendelssohn kurz vor seinem Tode komponierte.
Felix Mendelssohn Bartholdy:
Jauchzet dem Herrn (Op. 69, 2) – Athesinus Consort Berlin, Klaus-Martin Bresgott (CD »Boten«, 2011)