Paper Kite: Abend-Andacht
Paper Kite: Abend-Andacht, 2021
Paper Kite: Abend-Andacht
Coviello Classics CD COV92012 2021
Reflexionen über den 30-jährigen Krieg in Dichtung und Musik – die zeitliche Einordnung dieser CD macht deutlich, dass hier nicht die australischen Indierocker Paper Kites, sondern das junge Bonner Ensemble Paper Kite_ am Start ist – mit seinem zweiten Album, das die Ausrichtung des Ensembles auf die Musik des Frühbarock vertieft. Neben einem Werk des Musicus Poeticus Schütz wartet Paper Kite mit allesamt der thüringisch-sächsischen Tradition zuzuordnenden Komponisten der Generationen vor Johann Sebastian Bach auf: Andreas Hammerschmidt, Johann Rosenmüller, Schützens Schüler Christoph Bernhard, Johann Philipp und dessen Bruder Johann Krieger sowie Philipp Heinrich Erlebach – was die künstlerische Bedeutung der Herrscherhäuser der Region im 17. Jahrhundert eindrücklich untermauert. Johann Kriegers «Abend-Andacht« aus den «Neuen musicalischen Ergetzligkeiten« von 1684 ist titelgebend für diese Auswahl, die sich nicht an einer liturgisch konzipierten Abend-Andacht der Zeit orientiert, sondern neben reflektierend-erbaulichen Texten den Schwerpunkt auf die Ich-Texte der Bibel legt: Hohelied- (Hammerschmidt) und Psalm-Vertonungen (J.Ph. Krieger [31 und 96] Schütz [57], Bernhard [130]). Dieser Ich-Ausdruck, das individuelle Moment ist auch die große Stärke der CD und ihre pulsierende Kraft: Hier zeigt sich Sopranistin Marie Heeschen, um die sich ein Quintett aus zwei Violinen (Antonio de Sarlo, Rafael Roth), Cello (Guillermo Turina), Theorbe (Sören Leupold) und Orgel (Felix Schönherr) schart, ganz in dem einnehmend wandlungsfähigen Ausdrucksvermögen ihrer Stimme und ihrem klar konturierten, mitunter einem springenden Bergquell gleichenden, dabei aber immer mozartisch sinnlichen und weich strömenden Timbre. Ihr unaffektierter, die Sinne öffnender Umgang mit der Sprache und ihre sich an den Klang verschwendende – nicht verlierende – Hingabe verhilft jedem Werk zu seinem ihm eingeschriebenen Kolorit. Dabei kann sich Marie Heeschen auf ein exzellent eingespieltes, jede ihrer Regungen aufnehmendes und sie sicher durch alle Fährnisse begleitendes Ensemble verlassen. Auch Thomas Dehler, der Zeitzeugentexte eines Söldners, eines Priors und von Andreas Gryphius einspricht, erweist sich mit Eindringlichkeit als Könner seines Fachs. Insgesamt aber wirken diese elementar erschütternden Texte – entgegen der Intention der CD – artifiziell eingebunden und einer museal-historisch-akademischen Dramaturgie verpflichtet, die die Betroffenheit in den Konzertsaal bannt, statt der Gegenwart aller Geschichte Raum zu geben. Vielleicht hätte das in der Musik aufscheinende Memento Mori in unserer Wirklichkeit mit Stimmen aus Syrien, aus der Ukraine, aus häuslicher Gewalt, mit Obdachlosen … eine andere Dringlichkeit erfahren – die Musik hätte ihre Lebendigkeit und Kraft beweisen können. Dessen ungeachtet: Das neue Paper Kite-Album ist viel farbiger als seine Aufmachung, lebendig wie der Mai und fährt mit wachem Wind durch die Alte Musik.
Klaus-Martin Bresgott