Orlando di Lasso: Inferno Cappella Amsterdam, Daniel Reuss

Musik · Orlando di Lasso: Inferno Cappella Amsterdam, Daniel Reuss, 2020

Orlando di Lasso: Inferno Cappella Amsterdam, Daniel Reuss

Cappella Amsterdam, Daniel Reuss CD, Harmonia Mundi, 2020

Der «göttliche Orlando«, wie ihn einst Kollege Pierre de Ronsard nannte, ist eine Ohrenweide für alle Alte-Musik-Fans. Während sich vor allem seine derben Madrigale wie «matona mia cara«, die den eher geringen Teil seines Oeuvres ausmachen, im kleineren Ensemble- und Kirchenchorbereich großer Beliebtheit erfreuen, ist sein geistliches Werk – ungleich komplexer – eher den Könnern unter den Kammerchören vorbehalten und wird, wie etwa die exzellenten, in ihrer chromatischen Luzidität nicht einfach zugänglichen «Prophetiae Sibyllarum« oder die «Lagrime di San Pietro«, ungleich seltener aufgeführt. Der Kosmos der Meisterschaft Orlando di Lassos aber verlangt Chorklang, räumlicher Auffassung, Intonation und plastischer Präsenz viel ab. Und der Kosmos dieser CD – eine große Klage am Ende eines großen Lebens – tut dies in der Klage über das Labyrinth der Welt und ihre Tücken, über die Zeit und ihre Vergänglichkeit, doppelt. «Omnia Tempus habent« ist die große, starke, die CD eröffnende Motette, die thematisch umreißt, was im Titel der CD – inferno – unnötig dramatisiert scheint. Dieses «Alles hat seine Zeit« steht über der Auswahl und den dicht verwobenen Bezügen der zwölf hier erklingenden Motetten und zeigt einen Komponisten am Ende seines Lebens auf der Höhe seiner Kunst - zwischen Einsicht und Resignation, zwischen Zweifel und Ergebung. Die Höhe dieser Kunst spiegelt sich in der Modernität seiner Kompositionen: die frankoflämische Polyphonie, Aushängeschild der großen Vorbilder um Josquin Desprez, lässt er hinter sich und öffnet sich gekonnt dem Madrigalstil. Damit zeichnet er klingend vor, was wenig später Claudio Monteverdi und Heinrich Schütz in der Wort-Ton-Beziehung brillant umzusetzen vermögen. Von hier scheint die Cappella Amsterdam ihren Weg genommen zu haben: Wie aus vorvergangener Zeit lässt sie zunächst die alte Antiphon «Media vita in morte sumus« erklingen, um kontrastierend den polyphonen Stil mit gewichtendem Kontrapunkt in Erinnerung zu rufen. Dann blitzt – auch in der lastenden Schwere der Texte (Prediger 3, Jesus Sirach, Psalm 3, 17 und 119) – di Lassos Vermächtnis der Spätzeit auf: fein ausgearbeitete, öfter in Hoch- und Tiefchor ausbalancierte dialogische Strukturen, madrigalesk aufgefächerte Bögen, affektreiche Textziselierung … berauschend schön – auch im Lamento. Dabei nimmt man ein mit dieser Musik und ihrem melismatischen Puls scheinbar urvertrautes Ensemble wahr, das dicht und transparent zugleich, leuchtend und schattenreich in einem zu musizieren vermag. Einzig der strömend fließende Klang selbst fällt aus der madrigalesken Moderne zurück in ganzheitlich polyphones Weben, das manch rhythmischer Finesse die Kraft nimmt. Aber das ist nicht entscheidend. Die in den Einzelstimmen exzellent besetzte und mit einem bestechend geschmeidigen Chorklang aufwartende Cappella macht diese Stunde der Erkenntnis zu einer erhebend tiefen.

Klaus-Martin Bresgott

Musik · Orlando di Lasso: Inferno Cappella Amsterdam, Daniel Reuss, 2020