Lisa Hrdina liest Yael Inokai: Ein simpler Eingriff
Hörbuch · Lisa Hrdina liest Yael Inokai: Ein simpler Eingriff
Lisa Hrdina liest Yael Inokai: Ein simpler Eingriff
DIWAN-Hörbuchverlag, 2022 4 CDs, Laufzeit 270 Minuten
Die im Jahr der Friedlichen Revolution in der Schweiz geborene Schriftstellerin Yael Inokai ist nach ihren beiden ersten Romanen beim Züricher Rotpunktverlag mit »Ein simpler Eingriff« zu Hanser Berlin gewechselt und beschert dem Verlag mit ihrem Erstling dort ein leise-starkes Buch, dessen Besonderheit der Autorin den Anna-Seghers-Preis 2022 eingebracht hat. Sie erzählt – unterteilt in drei Abschnitte, die die Namen der handelnden Protagonisten Marianne, Sarah und Meret tragen – die Geschichte der Krankenschwester Meret, die, ihrem Elternhaus unglücklich entronnen, in einem Schwesternwohnheim wohnt und auf einer neurochirurgisch-psychiatrischen Station arbeitet. Der Oberarzt macht die junge Frau zur Assistentin bei seinen Eingriffen, die die Patienten aus der psychischen Abnormität wieder in die gesellschaftliche Normalität zurückführen sollen. Ihr empathisch-idealistisches Wesen ist von hohem Wert: für die Patienten, für den Arzt, für das Renommee. Ihre Überzeugung bekommt jedoch Risse: durch Marianne, eine junge Patientin, bei der der Eingriff misslingt und die damit schattenhaft aus dem Raster des Menschseins fällt, und durch Sarah, ebenfalls Krankenschwester und Zimmergenossin, in die sie sich verliebt und mit ihr eine vorher unvorstellbar scheinende Liebesbeziehung eingeht. In den durchflüsterten Nächten dieser Liebe offenbaren die jungen Frauen einander. Dabei wird Meret gewahr, was ein simpler Eingriff für ein fataler Übergriff sein kann und wohlmeinend postulierter medizinischer Fortschritt von rücksichtslosen Abhängigkeiten gesteuert wird. In der schwebenden Zeitlosigkeit der Szenerie offenbart Yael Inokai die immanente Gefahr dieser gratwandernden Fortschrittsfalle, gegen die Meret schließlich aufbegehrt und durch die Liebe zu Sarah ihre eigene Freiheit findet. Wie Lisa Hrdina mit diesem Text umgeht, ist wagemutig dicht und substanziell. Es geht unter die Haut.
Klaus-Martin Bresgott