Frank Schwemmer – Komponist
Singen und Sagen
Frank Schwemmer:
Miserere Domine, Ps 31 (10 bis 18, 20, 24) – Lilienfelder Cantorei Berlin, Klaus-Martin Bresgott (CD »Meine Seele. Mein Gott.«, 2006)
Frank Schwemmer – Komponist
Das Singen und Sagen Frank Schwemmers, der Ton, den seine Musik macht, ist ein Kantate, ein Laudate und Jubilate, ein Passionieren und Rebellieren, ein Flüstern und Schreien, ein Seufzen und Zagen, ein Wüten und Klagen, das die Phantasie dieses Komponisten aus dem Universum fischt. Hierfür ist die Stimme – allein oder im Chor – sein Instrument. Mit ihr überführt er das Klingen der Welt fein- und hintersinnig in seine Form, die ihn auf sehr verschiedenen Gebieten der Vokalmusik nachhaltig erfolgreich sein lässt. So kennt man Frank Schwemmer als bildstarken Bearbeiter von Volksliedern und Komponist tiefgründiger geistlicher Motetten ebenso wie als erfolgreichen Opernkomponisten, dessen Werk europaweit aufgeführt wird. Ein Querschnitt seines A-cappella-Schaffens findet sich auf der CD »Perlmuttfalter« Contemporary Choral Music (2014 Deutschlandradio Kultur und Carus-Verlag).
Welche Beziehung haben Sie zum Lied in seinen Facetten vom Volkslied bis zum Choral? Fühlen Sie sich einer Tradition verbunden? Als singendes Kind wurde ich durch meine singenden Eltern früh mit dem reichen Liedschatz der sogenannten und wirklichen Volkslieder vertraut. Und wie es bei vielen frühkindlichen Prägungen der Fall ist, blieben die Melodien weniger reine Erinnerungen und abrufbarer musikalischer Fundus, als vielmehr ungefilterte, oft unbewusste, emotional verknüpfte Basis späteren, eigenen musikalischen Schaffens. Der Kontakt zum Kirchenlied kam mit den Besuchen im Kindergottesdienst, später durch die Konfirmandenzeit, endlich auch durch eigenes Mitwirken im Kirchenchor zu Stande. Hierbei war aber das Erleben ein anderes, als beim im Familienkreis gesungenen Volkslied. Ob durch den brummenden Gemeindegesang, die mehr schlecht als recht geschlagene Orgel oder durch die oft unverständlichen und bedrohlichen Inhalte - mir kamen diese Lieder oft düster und schwer vor. Als Komponist erlebe ich diese Lieder heute vielmehr als »Werke«, denen ein gestalterischer Wille Ihre Kraft verleiht. Darin liegt für mich ein neuer Reiz der Betrachtung dieser Lieder.
Worin liegt für Sie der Reiz geistlicher Musik? Haben Sie eine besondere Affinität zu ihr? Grundsätzlich gilt für mich: Das Vermitteln geistlicher Inhalte durch und mit Musik erlaubt mir den Zugang zu deren emotionaler Wahrhaftigkeit. Sagt mir ein Mensch: Mich hat Gott berührt, bin ich geneigt, diesen als frömmlerischen Prahlhans abzustempeln. Der gleiche Inhalt in überhöhter, gesungener Form, kann mir die Wahrhaftigkeit seines Erlebnisses unmittelbar zugänglich machen. Essenz meiner Beschäftigung und meines Schaffens von geistlicher Musik ist die Suche nach dem reinen, spirituellen Kern von geistlichen Texten und musikalischen Inhalten. Durch das Ausleuchten, das manchmal fast meditative Drehen des textlichen und musikalischen Materials tastet sich die Musik von der Beschäftigung mit theologischen oder religiösen Inhalten zu deren ideologiefreien Werten des menschlichen Denkens und Fühlens in Bezug zu einer höheren Macht vor, die jeder individuell verstehen darf. Bei der Arbeit mit tradierten geistlichen Melodien gefällt mir deren durch die Kirchentonarten erzeugter Schwebezustand. Ich kann die Wirkung, die diese Tonarten auf Menschen früherer Jahrhunderte hatten, nicht wirklich nachvollziehen. Bei mir aber entsteht ein Nährboden, auf dem neue Ideen aus diesen Melodien und Formen wachsen.
Welche Bedeutung hat für Sie der Text? Wie gehen Sie in der Textauswahl vor? Die Auswahl der Texte beinhaltet bei mir häufig die Kontrastierung biblisch-christlicher Inhalte mit außerkirchlichen Texten. Dabei nutze ich gern Texte von Schriftstellern, die sich mit christlichem Fühlen und Denken ungewöhnlich oder kritisch auseinandergesetzt haben wie Thomas Bernhard, Georg Trakl oder Christian Lehnert, aber auch Texte aus ganz anderen Kontexten. In meiner Motette „Flucht“ nutze ich zum Beispiel sowohl Texte der Psalmen, als auch des deutschen Asylgesetzes. Da ich Religion und Spiritualität oft als Gegensatzpaar erlebe, kann die Textauswahl religionskritische, zweifelnde Züge haben. Oft hilft mir eine neue Anordnung biblischer Texte – wie Brahms sie praktiziert hat, um deren Inhalte neu zugänglich zu machen.
Wer sind Ihre Auftraggeber? Ist die Qualität des daran gebundenen Ensembles für Sie ausschlaggebend, sich an die Arbeit zu setzen? Die Auftraggeber meiner geistlichen Werke sind neben Kantoreien verschiedener Größenordnungen, freie Chöre, Ensembles und Berufschöre, Rundfunkchöre zum Beispiel. Das Niveau ist naturgemäß sehr unterschiedlich. Darum ist es für mich wichtig, mich vor dem Komponieren möglichst genau mit den Fähigkeiten und Vorlieben des jeweiligen Ensembles vertraut zu machen. Die Lust, etwas zu schreiben, ist immer gleich hoch. Sie steigert sich durch die persönliche Begegnung mit den jeweiligen Interpreten, die ich immer anstrebe, weil der Zugang zueinander auch die Tür zum neuen Werk leichter öffnet. Ein enger Kontakt zum Ensemble, das einen Kompositionsauftrag vergibt, ist mir darum wichtig. Er bereichert beide Seiten.
Das Gespräch führte Klaus-Martin Bresgott.
—
Frank Schwemmer, geboren 1961 in Berlin Erste Kompositionen 1979, Studium der Schulmusik an der UdK Berlin, privates Kompositionsstudium in Berlin und Wien. Seit 1983 freischaffend als Komponist tätig.
—
Geistliche Werke (Auswahl) – 1995 »In lectulo meo« drei Hohelied-Motetten für fünf- bis zwölfstimmigen Chor – 2004 »Magnificat« für zwei Soprane und Chor – 2006 »Psalm 31« für vier- bis achtst. Chor – 2010 »Morgen Herr bin ich bei Dir«, drei Choralmotetten für achtst. Chor nach Thomas Bernhard und dem Buch Hiob – 2012 »Der brennende Dornbusch«, drei Motetten für vier- bis fünfstimmigen Chor nach Gedichten von Christian Lehnert – 2014 »Violence never brings peace« für zwölfst. Chor, Saxophon und Schlagzeug nach Martin Luther King und Martin Luther – 2015 »Flucht« Motette für Doppelchor und Schlagzeug, Auftragswerk für den RIAS-Kammerchor und Jugendchor Hermannswerder – 2016 »Die Stimme meines Freundes« vier- bis sechsstimmige Motette nach dem Hohelied und den Sprüche Salomos
—
Werkbeispiel
Psalm 31 (Berliner Chormusik Verlag, 2006, SSATB, 6:30 Min.) hat Frank Schwemmer als Gegenüber zu Heinrich Schütz’ Psalm 31-Vertonung „»Herr, auf dich traue ich« (SWV 377) komponiert. Beide Komponisten ziehen die Spannung aus der Darstellung des Weges der inneren Erkenntnis. Beide zeigen den Kontrast zwischen Unmittelbarkeit und Abstraktion. Im Beginn stehen Angst und Bedrängnis im Vordergrund – Schwemmer setzt sie sowohl in der Sprachverwirrung (deutsch, englisch, spanisch, französisch, lateinisch) als auch in dem beklemmenden Sog aus Flüstern, Singen und Rufen wie in aufgewühltem, rhythmischem Drängen meisterhaft in Szene. Die anfänglich ekstatische Klage (Teil I) und Bitte um Erlösung (Teil II) führt schließlich in Anbetung und Ruhe (Teil III). In dieser Einkehr gleicht der ruhig strömende Choral am Ende einer befreienden Meditation. Schwemmer knüpft in der Formensprache hier gewandt an die Tradition der Werke Bachs, Mendelssohns und Distlers an. Er führt den Psalm in drei kontrastreich differenzierten Sätzen affektgeladen in ein Finale, das dem Text in allen Nuancen gerecht wird. Trotzdem steht der Schlussakkord nicht, wie bei allen genannten Meistern vor ihm, im alles überstrahlenden Dur. Diesem Einverständnis kommt Schwemmer zuvor. Er gibt dem Ende kein traditionelles Bekenntnis bei. Kein factus est. Kein Amen. Keine Doxologie. Das Ende ist Stille. Bocca chiusa. Wortloses Singen mit geschlossenem Mund. Dieser Akkord schlüsselt sich nicht einfach auf. Bis hierher wahrt Schwemmer die individuelle Form. Er formuliert noch in der Schlusssequenz Eigensinn und Einverständnis mit den offenen Fragen, die die Gotteserkenntnis nicht aufzulösen vermag. Er gibt sie zurück an die Stille. Dissonante und konsonante Tonbeziehungen haben ihre traditionelle Wertigkeit verloren. Das überkommene Dissonanzempfinden, das in den Kompositionen seiner Vorgänger wesentliches Ausdrucksmittel des Affektes war, ist in den Hintergrund gerückt und beinahe aufgelöst. Auf den bocca chiusa-Akkorden erscheint dies symbolhaft. – Klaus-Martin Bresgott