Dorothea Grünzweig

Schriftstellerin

Dorothea Grünzweig

Schriftstellerin

Dorothea Grünzweig ist eine deutsche Schriftstellerin, die in Finnland lebt. Sie schreibt vornehmlich Gedichte und Essays zur Literatur. Außerdem übersetzt sie Lyrik aus dem Englischen, dem Finnischen und dem Wogulischen, einer Sprache, die von den Mansen im Nordwesten Sibiriens gesprochen wird und zur finno-ugrischen Sprachfamilie gehört. Gebürtig im schwäbischen Korntal bei Stuttgart, hat sie unter anderem lange in Wales und Schottland gelebt, ehe sie in Finnland ihre Heimat gefunden hat. Hier lotet sie das Leben im klingenden Lichtspiel der Vokale und in der wasserleisen Weite der Zeit aus. Dabei dringt sie tief in die Traditionen ein, reflektiert die Verwandtschaft von Landschaft und Musik, lauscht dem Klang der Sonnenorgeln und offenbart in großer Empathie jene Einheit zwischen den Dingen, die in der Struktur des Alltags geschieden scheinen.

Lyrik hat sich über viele Jahrhundere in das Geäst des Reims eingenistet. Vielfach wird sie zunächst unmittelbar daran gemessen. In Schulen lernt man – wenn überhaupt noch – Gedichte früherer Generationen mit Reim. Welchen Raum nimmt der Reim in Ihrer Lyrik und in Ihrem dichterischen Denken ein?

Der Reim ist mir von klein auf vertraut durch poetische Texte, vor allem erst einmal Choräle, die wir im süddeutschen Pfarrhaus meiner Kindheit täglich gesungen haben und dann in der Oberstufe durch meine Zuneigung zu Gedichten, auch denen früherer Epochen. Also Jugendliche verfasste ich in meinem Dachzimmer mit meiner Gitarre Lieder, die ich »Songs« nannte. Sie waren gereimt. Später, als es mich nach zwanzigjähriger Pause endgültig zum Schreiben trieb, empfand ich den Reim als gängelnd und fesselnd. Ein Regent, auf den alles zuläuft und der das einschränkt, was mich anzieht: Klangechos und Lautgeflechte im Inneren der Zeilen oder ein von grundauf stimmig erscheinendes Wort. In einem Bild gesprochen, ist das endreimlose Schreiben wie das freie Tanzen, das ich, angeregt von der Hippiebewegung, nach den Standardtänzen der schulischen Tanzstunde für mich entdeckte. Ich nannte einmal die Sprache der Gedichte die »musizierende Sprache« – dies zu sein, glückt ihr auch ohne Reim. Mein Umgang mit der Lyrik der Moderne brachte mir das bei.

Was sind Ihre Wege zum Schreiben?

Mich hat immer die groβe Kluft zwischen eigenem, vielschichtigem Wahrnehmen und der gängigen Sprache bedrückt. Nie waren mein Empfinden in ihr aufgehoben. Andererseits ging von der intensiven, religiösen Glaubenssprache des Vaters ein Sog aus. Als Kind schienen mir manche dieser Wörter, besonders jene, die ich nicht verstand, faszinierend und geheimnisvoll. Sie forderten mich zum gedanklichen Abtauchen heraus, zum Träumen, Spielen und zu ihrem Vermischen mit dem würzigen Sprachschatz der Mutter. Einmal ergab sich in meinem »Oberstübchen« ein Songtext mit eigenartigen Formulierungen, die ich nicht willentlich geschmiedet hatte, sondern die offenbar zu mir gekommen waren. Sie zeigten etwas Tieferes auf und elektrisierten mich. Ich erschrak. Auch aus anderen Gründen, lieβ ich das Dichten und konzentrierte mich auf Schule und Studium. Als ich Mitte dreiβig, längst im Beruf, wieder damit anfing, wollte ich genau dieses Phänomen wieder zu packen kriegen, die Sprache unter der Alltagssprache hervorlocken. Ich nenne sie »die Eigensprache«. Für deren Freilegung muss das Unterbewusstsein das Bewusstsein besetzen. Über sie geschieht eine Art Heimkehr. Der Weg zu dieser »Eigensprache«, ihre Entwicklung und die Pflege von ihr, musste für mich nach Finnland führen. Dort gab es Anonymität und Weite, auch die Wildheit der Landschaft und das Auftreffen meiner Herkunftssprache auf eine Sprache aus ganz anderem »Haus und Geschlecht« – nämlich das Finnisch-Ugrische. Ähnlich wie die nicht verstehbaren Wörter des Vaters in meiner Kindheit, erschienen mir die Wörter der neuen Sprache ungeheuer anziehend. Auch konnte ich Brache halten im Bezug auf meine deutsche Sprache. Und deshalb gewann ich sie auf befreite und gefeite Weise wieder

Was sind ihre persönlichen Wünsche an die poetische Sprache?

Eben nannte ich schon den Schatz, der sich durch das Finden der poetische Sprache heben lieβ – jene Heimkehr. Diese ist gekoppelt an ein Aufspüren der verborgenen Zusammenhänge der Dinge, ein Entdecken der Ähnlichkeit von bislang getrennt Gesehenem, sich selber mit eingeschlossen. Als ob man eine Ahnung erhielte von der »Coincidentia oppositorum« dem »Zusammenfall der Gegensätze«. Für den mittelalterlichen Denker Nikolaus von Kues bedeutete dies die Idee von einer »unendlichen Einheit«, in die alles eingefaltet sei. Diese setzte er mit Gott gleich. Um diese Erfahrung voranzutreiben, muss sich eine unablässige Suche nach dem ureigenen Erscheinen und Wesen der Dinge abspielen. Gerard Manley Hopkins, ein Einzelgänger unter den englischen Dichtern des 19. Jahrhunderts – ich habe seine Gedichte vor einigen Jahren zu übersetzen versucht – ist mir hierfür verehrtes Vorbild. Oft kommt es mir auch so vor, wie wenn alle Dinge Namen in sich trügen und ich hätte »aus Mundeskräften« nach ihnen zu suchen. Wie wenn die Welt – der Ausschnitt von ihr, dem ich begegne – damit erst ganz herauskommen, zu ihrer Erfüllung gelangen könne. Das Ergebnis dieses Benennens ist ein Einvernehmen. Es geht nicht um Beherrschen, sondern um ein Verbunden- und Berührtwerden. Ganz dicht bei dieser Namensfindung liegt das Preisen.

Gedichte sind für mich auch Verwandte eines Rituals, das mir durch mein Elternhaus vertraut wurde: Das freie Gebet, die Fürbitte und deren Sprechhaltung – Mitfühlen, Mitleiden mit Tier- und Menschenschmerz. Etwas in den Blick nehmen, in eine konzentrierte, aufgeladene Sprache fassen, und gleichzeitig anheimstellen – Gott oder in diesem Fall der Gedichtsprache. Auch in dunkle Gedichte füge ich gerne eine Figur des Tröstlichen ein, kleines Zeichen einer möglichen Verwandlung, Aber auch umgekehrt: Wendungen der Hoffnung werden dunkel unterlegt, zum Beispiel durch verschiedene Bedeutungen eines Wortes. Eine Gedichtzeile etwa lautet: »als würd’ uns eine Tracht Trost gebracht«. »Tracht« als« Last« oder, auch negativ besetzt, »Tracht Prügel«. Der Trost also schwer glaubbar und eingebläut. Jedoch hat die schöne Bedeutung der Bienentracht, des Honigs, genauso das Sagen, ja klingt vielleicht stärker nach.

Sie sind scheinbar selbstverständlich eine Wortfinderin und -erfinderin. Worte und Begriffe wie »Kinderundedentage«, »Abraumich und Anraumich«, jenes »Tracht Trost«, »Polar-Dur« und »Schläfenheil«, die voller Geheimnis und Klarheit zugleich sind, finden sich scheinbar ganz normal in Ihrem Wortschatz. Ist es für eine Dichterin selbstverständlich, neue Worte zu gebären?

Für mich jedenfalls sind Wortschöpfungen unentbehrlich, da es mir, wie gesagt darum geht, nicht das Universelle der Dinge herauszustellen, sondern das Besondere, Einzigartige. Dieses Ziel lässt sich freilich niemals erreichen, aber der Weg führt darauf zu. Und deshalb muss die Sprache ständig erweitert werden, bis ein Wort, ein Ausdruck sitzt. Bis sich das einstellt, was die 2009 verstorbene dänische Dichterin Inger Christensen bezüglich der Eigenschaft von Gedichten sagt: dass sie »weltverklärend« seien. Der tägliche Eintrag in ein Schreibheft hat sich für mich als fruchtbare Arbeitsweise erwiesen: kein Tagebuch, sondern Umkreisen von Beobachtungen, rätselvollen, nicht loslassenden Phänomenen, auftauchende Assoziationen und Bilder, Vermeiden steuernder Logik. Dabei lässt sich ausprobieren, ob ein neues Wort, in dem ein schon bestehendes anklingen kann, die blitzartige Erkenntnis bringt: Genau, das ist es! Wir dürfen auf die Ordnung vertrauen, die in uns, sozusagen am Seelengrund, schon angelegt ist. Die Romantiker, voran Novalis, haben diese Tatsache immer wieder herausgestellt.

Sie nennen Dichter auch Gärtner. Was meinen Sie damit?

Ja, Gärtner und Dichter lassen sich miteinander vergleichen. Beide müssen einen langen Atem haben, müssen warten, verweilen, bis ihnen etwas zukommt. Dann ist es Zeit, Hand anzulegen. Die formende Arbeit beginnt. Sie haben zu sichten, wegzuschneiden, auszuästen, Schädlinge zu entfernen und abzuwehren, haben zu versetzen. Um der Schönheit und der Bedürfnisse der Pflanzen willen, neu zu kombinieren und für genügend Licht zu sorgen. Beiden muss bewusst bleiben, dass sie Empfangende sind. Für meine eigene Vorgehensweise heiβt das konkret: mit dem Material, das sich im Schreibheft herausgebildet hat, diese Gärtnerarbeit zu tun, solange bis Gebilde entstehen mit einer von innen her gespannten Form.

Was bedeutet für Sie Leibsprache?

Der Begriff »Eigensprache« hat für mich ein Synonym: »Leibsprache«. Erst einmal im Sinne von »Lieblingssprache«, entsprechend dem Wort »Leibspeise«. Aber die Bedeutung ist weiter: Die poetische Sprache wird über die Sinne gespeist, ist sinnlich. Und sie hat ein umfassenderes Volumen als unser verkopftes Denken und Sprechen, das immer »on top of everything« sein will, wie ein Ausdruck im Englischen heiβt. Wir fügen uns mit ihr mehr in die Welt ein, werden Glied von ihr stoβen auf verschüttete, uns mit Pflanze und Tier verschwisternde Schichten, spüren Einklang. »Leib« und »Leben« haben sprachgeschichtlich die gleiche Wurzel, also kann man die »Leibsprache« auch »Lebenssprache« nennen. Johann Georg Hamann, philosophisch-theologischer Schriftsteller, des 18. Jahrhunderts, der Kluges zur Sprache gesagt hat, nannte die Poesie die »Muttersprache der Menschheit«. Wegen des magischen Sprechens in unseren kulturgeschichtlichen Anfänge. Aber das Wort »Muttersprache« meint für ihn auch dies: wiegender Rhythmus, bebildertes, lallendes, singendes, angstlösendes Sprechen. Das noch Offene des kindlichen Empfindens für die Töne, die nicht durch Sprachgrenzen aufgeteilt sind, sondern einfach als ein Lautstrom ans Ohr dringen, in Fleisch und Blut übergehen. Hamann betont den hohen Wert der Sprachbilder: »In Bildern liegt der ganze Schatz menschlicher Erkenntnis und Glückseligkeit«. Damit hängt für ihn die Einsicht zusammen, dass die Wahrnehmung über den Leib und die aus ihr gewonnene Sprache höher zu stellen sei als die verknöcherte »hundemagere abstrakte Sprache«. Deshalb steht in einer von ihm aufgestellten Hierarchie des göttlichen und menschlichen Sprechens die Poesie unterhalb der Engelssprache. In ihr ist ein Abglanz von der Sprache der Engel zu spüren, die nicht herleiten müssen. Denn sie vermögen intuitiv zu schauen.

Das Gespräch führte Klaus-Martin Bresgott.

Dorothea Grünzweig, geboren 1952 in Korntal (Württemberg) Studium der Germanistik und Anglistik. Nach einer Tätigkeit an der schottischen Universität Dundee arbeitete sie als Lehrerin in Deutschland und in Helsinki, wohin sie 1989 zog. Seit 1998 lebt sie als freie Schriftstellerin und Lyrik-Übersetzerin in einem Dorf in Südfinnland. Dorothea Grünzweig wurde mit zahlreichen Stipendien und Preisen ausgezeichnet.

Werke, Preise – 1997 Lyrikpreis der Stiftung Niedersachsen – 2000 Heinrich-Heine-Stipendium in Lüneburg – 2004 Christian-Wagner-Preis – 2004 »Glasstimmen. Gedichte«, Wallstein Verlag – 2008 Jahresstipendium des Landes Baden-Württemberg – 2008 »Die Auflösung. Gedichte«, Wallstein Verlag – 2010 Anke-Bennholdt-Thomsen Lyrikpreis – 2011 »Sonnenorgeln. Ausgewählte Gedichte und ein Werkstatt-Essay«, Wallstein Verlag – 2014 »Kaamos Kosmos. Gedichte«, Wallstein Verlag

Lichteinfall

Die Nacht kommt nur noch dem Tag zum Trotz es fliegt wer bei Trost ist vom Bersten des Lichts es fliegt wer nicht sagt ich will fliegen

Wer sagt nicht lieben will ich der liebt sein Herz ein schwebender Drachen

Und Inseln treten am Morgen hervor auch wenn sie sich schworen zu schwinden

(aus: »Sonnenorgeln«, 2011)

Dorothea Grünzweig – Schriftstellerin

Dorothea Grünzweig – Schriftstellerin

Dorothea Grünzweig – Schriftstellerin

Dorothea Grünzweig »Kaamos Kosmos«, Gedichte, Wallstein-Verlag, 2014

»Poesiealbum 311. Dorothea Grünzweig«, Lyrikauswahl von Axel Helbig, Märkischer Verlag, 2014

Dorothea Grünzweig »Sonnenorgeln«, Wallstein-Verlag, 2011

Dorothea Grünzweig »Die Auflösung«, Gedichte, Wallstein-Verlag, 2008

Dorothea Grünzweig »Glasstimmen lasinäänet«, Wallstein-Verlag, 2004

Dorothea Grünzweig »Vom Eisgebreit«, Gedichte, Wallstein-Verlag, 2000

Dorothea Grünzweig »Mittsommerschnitt«, Gedichte, Wallstein-Verlag, 19970

Dorothea Grünzweig – Schriftstellerin